Pferde als Therapiepartner

Pferde üben seit jeher aufgrund ihres beeindruckenden Auftretens und ihrer Intelligenz eine gewisse Faszination auf den Menschen aus. Sie können auf Stimmungen und Körpersprache ihres Gegenübers passend reagieren und sind dadurch ideale Therapiepartner für autistische Menschen

Matthias ist fünf Jahre alt und hat frühkindlichen Autismus. Mit seinem herausfordernden Verhalten bringt er seine Eltern zunehmend an den Rand ihrer Kräfte. Ein Aufenthalt in einer Kinderklinik soll helfen, mit der Diagnose zu leben und ihren Sohn besser zu verstehen. Hier lerne ich Matthias kennen, wo ich ihn an therapeutisches Reiten heranführen möchte.

Ein einzigartiges Kind
Matthias macht hier seine erste Begegnung mit Pferden. Er ist unruhig, rennt sofort die langen Wege zwischen den Wiesen entlang. Er ist immer in Bewegung. Sein Vater rennt hinterher, schnell und wendig. Um den Hals trägt er eine Kamera, eigentlich möchte er von diesem besonderen Ereignis Fotos machen. Bisher kommt er nicht dazu. Unser Pferd Leikna wartet angebunden am Putzplatz. Die erfahrene Islandstute ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen und weiß, dass sie jetzt ganz passiv sein muss. Mein Versuch, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, funktioniert nicht gut, denn beide sind sehr beansprucht von ihrem unruhigen Sohn. Ich versuche, mit Matthias Kontakt aufzunehmen. Es ist nahezu unmöglich, ihn länger als zwei Sekunden ans Pferd zu bringen. Ich möchte, dass er das Pferd wahrnimmt, einen kurzen Blick auf Leikna wirft, ihre Größe und Präsenz sieht und spürt. Dann ein Blick aus dem Augenwinkel! Der erste Kontakt ist gelungen. Schnell entwindet er sich und ist wieder weg. Er rennt den Schotterweg Richtung Tal, der Vater hinterher. Nach ein paar Minuten sind beide zurück und ich nähere mich Matthias entschlossen mit der Idee, ihn näher ans Pferd zu bringen. Ich fassen ihn von hinten an seine Arme und führe ihn an den Pferdebauch. Ich stehe ganz dicht hinter seinem Rücken, gebe ihm Schutz, atme mit ihm, schicke ihm Kraft und Ruhe und es gelingt für einige Sekunden, unsere Hände gemeinsam an das Tier zu legen. Wir spüren das Fell und die Atmung des Pferdes. Nach fünf Sekunden reißt sich Matthias los und läuft wieder weg.

Ein großer Schritt
Ich bereite das Pferd vor und stelle Leikna an die Treppe. Es muss schnell gehen, damit ich Matthias nicht verliere. Er ist am Putzplatz und nimmt wahr, was passiert. Die Helferin hält das Pferd, ich kann mit Matthias gemeinsam die Treppe bis zur kleinen Plattform besteigen. Ich bin dicht hinter ihm, berühre fest seine Oberarme, bin mit meinem Bauch schützend an seinem Rücken. Kurz steht er oben, ich nehme entschlossen sein Bein und hebe ihn auf den Rücken von Leikna. Er ist ruhig. Sofort gehen wir los, die Pferdeführerin ist vorn, ich bin links, der Vater ist rechts vom Pferd. Zusammen gehen wir ins Tal, den Weg, den Matthias vorher mehrere Male runter gerannt ist. Keiner spricht. Ich umfasse mit meinem Arm Matthias‘ Becken, um auf ein spontanes Absteigen gefasst zu sein, aber nach einigen Metern ist mir klar: Matthias bleibt oben. Er sitzt entspannt mit lockerer Körperhaltung und schaut in die schöne Landschaft. Seine Gesichtszüge sind gelöst und er beginnt zu lächeln. Er beginnt, leise zu singen. Noch jemand entspannt sich: der Vater. Er strahlt! Endlich kommt er dazu, Fotos zu machen. Hat er sein Kind schon einmal so gesehen? Unser Ritt durch die Wiesen dauert 20 Minuten. Alle sind andächtig und still und Matthias genießt

Das Therapiepferd begegnet jedem Menschen absolut vorbehaltlos

Die richtige Tür öffnen
Jeder ist anders, auch autistische Menschen. Die Aufgabe für mich als Reitpädagogin ist es, die Besonderheit von jedem zu erkennen und die richtige Tür zur Begegnung mit dem Pferd zu öffnen. Das Therapiepferd begegnet jedem Menschen absolut vorbehaltlos. Es ist trainiert darauf, ungewöhnliche Verhaltensweisen wie laute Stimmen, unvorhersehbare Bewegungen oder starke Anspannung zu tolerieren. Es wirkt ausgleichend, denn seine innere Haltung ist gelassen, ohne Urteil, ohne Fragen, ohne Bewertung. Menschen mit autistischen Verhaltensweisen erleben diese Toleranz im Alltag oft nicht. Mein erstes Ziel mit jedem Kind ist, den Kontakt zum Pferd zu wollen und zuzulassen. Ich möchte Blickkontakt zum Tier und möchte Berührungen anleiten. Dabei gibt es keinen Zeitdruck und auch kein Scheitern und kein Falschmachen. Später in der Therapie geht es darum, wiederkehrende Dinge an und mit dem Pferd zu trainieren, beispielsweise das Tragen der Putzkiste zum Putzplatz. Handlungen werden eingeübt, bis sie selbstverständlich sind. Pferde vermitteln autistischen Menschen Sicherheit, Ruhe und Gelassenheit. Die Begegnung am Boden auf Augenhöhe ist motivierend und ermutigend. Das Getragenwerden auf dem Rücken des Pferdes wirkt beruhigend und ermöglicht die Wahrnehmung des ganzen Körpers. Das regelmäßige Schaukeln und die Wärme tragen zur Entspannung bei. Alle Muskeln werden sanft bewegt, das Gehirn erfährt eine Stimulierung besonderer Art. Anspannung lässt nach, die Körperhaltung verändert sich in Richtung Aufrichtung. Und noch etwas Besonderes geschieht: Liebe wird fühlbar. Begegnung wird toleriert und gewünscht, Nähe ist möglich und angenehm – das Kind bekommt einen Freund!

Therapeutisches Reiten kann über das ‚Persönliche Budget‘ oder die Verhinderungspflege, beispielsweise bei der Lebenshilfe, finanziert werden.

für die Zeitschrift „autismuns verstehen“ von Susanne Behrend geschrieben